Wer die gedruckte Ausgabe im Juli verpasst hat: hier mein Artikel zur Critical Mass.
An einem sonnigen Freitag Nachmittag treffen sich auf dem Schlossplatz Menschen zu einer besonderen Fahrradtour: Endlich gibt es auch in Münster eine Critical Mass.
Im Jahr 1992 waren es in San Francisco einige hundert Radfahrer, die gemeinsam durch die Stadt fuhren und dabei eine neue Aktionsform aus der Taufe hoben. Seither haben in immer mehr Ländern der Welt in vielen Städten Radler so auf ihre Belange aufmerksam gemacht, auch in Deutschland sind schon viele Städte dabei, traditionell oft am letzten Freitag im Monat - im Mai waren es allein in Hamburg über 5.000 Menschen.
In Münster sind es heute Nachmittag fast 100 Erwachsene und viele Kinder - verteilt auf Anhänger und Lastenräder - und damit kann es los gehen: die Straßenverkehrsordnung erlaubt es nach §27 einer Gruppe von mehr als fünfzehn Fahrrädern, im geschlossenen Verband auf die schmalen Radwege zu verzichten und gemeinsam auf der Straße zu fahren.
Münster gilt als Fahrradhauptstadt Deutschlands. Einige Zahlen untermauern diesen Anspruch bis heute. So steigen die Münsteraner täglich rund 370.0001 Mal auf ihre Räder, wovon die Stadt etwa doppelt so viele wie Einwohner hat. Damit stellt das Fahrrad etwas mehr als ein Drittel des gesamten Verkehrsaufkommens in Münster, in Teilbereichen wie zum Beispiel dem Schulweg liegt der Radverkehrsanteil sogar bei 50 Prozent1.
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Über 440 Kilometer Radwege2 ziehen sich durch die Stadt, doch es sind einige darunter, die den Titel Radweg nicht verdienen. Wer schon einmal durch die Hüfferstraße oder Bremer Straße gefahren ist, kann sich ein Bild davon machen. Dabei gibt es seit langem konkrete Vorgaben, wie Radverkehrsanlagen zu gestalten sind - bei neu gebauten Radwegen sind diese sogar bindend.
Zusätzlich war die Verkehrsforschung nicht untätig: bereits aus den 1990er Jahren stammt die Erkenntnis, dass Fahrradfahrer innerstädtisch auf der Straße oft sicherer aufgehoben sind, als auf baulich getrennten Radwegen. Auf der Straße rücken sie in den Fokus der übrigen Verkehrsteilnehmer und laufen deutlich weniger Gefahr, übersehen zu werden. Entsprechend wurde in der sogenannten “Radfahrnovelle” der Straßenverkehrsordnung von 1997 die Benutzungspflicht für Radwege generell aufgehoben und muss seither durch das blaue Verkehrszeichen explizit ausgewiesen werden - aber auch nur dort, wo der Radweg auch die bessere Alternative ist.
So ist eine Critical Mass in Münster nicht nur “Meckern auf hohem Niveau”. Für eine Stadt mit hoher Lebensqualität ist der Radverkehr ein Muss, und um diesen zu erhalten, reicht es nicht, auf die sprichwörtliche Sturheit der Westfalen zu zählen, die sich entgegen aller Widrigkeiten auf ihre Räder schwingen. Radverkehr in Münster muss endlich konsequent gefördert und gleichberechtigt behandelt werden.
Im strahlenden Schein der Frühlingssonne setzt sich die Critical Mass in Bewegung. In gemächlichem Tempo geht es vom Schlossplatz zum Bült, weiter über die Eisenbahnstraße und Schorlemerstraße in den überregional berüchtigten Ludgerikreisel und von hier über die Hammer Straße, Metzer Straße und Weseler Straße zurück zum Schloss.
Durch den geschlossenen Verband ergeben sich dabei einige Besonderheiten. So sind zum Beispiel Ampeln stets gemeinsam zu überqueren, selbst wenn sie zwischenzeitlich auf Rot springen. Hier sorgt die Critical Mass mit Ordnern selbst für Sicherheit: einzelne Radfahrer “corken” den Begegnungsverkehr, bis der Verband die Ampel überquert hat, und nutzen auch gern die Gelegenheit, um bei einem kurzen Gespräch durchs Beifahrerfenster über die Critical Mass aufzuklären - denn die Verwunderung über so viele gutgelaunte Radfahrer, friedlich mitten auf der Straße, ist oft groß.
Zurück auf dem Schlossplatz sind alle zufrieden: die Critical Mass ist eine Bewegung, die bundesweit an Bedeutung gewinnt, und Münster ist nun endlich auch dabei. Und so treffen sich einige Teilnehmer anschließend noch auf ein Kaltgetränk im Café Geistreich der autofreien Siedlung, um sich auszutauschen und neue Bekanntschaften zu machen.
Unterm Strich geht des nicht nur um mehr Aufmerksamkeit für Fahrradfahrer. “Öffentliche Räume zurückerobern” sei ein Ziel, sagt ein Teilnehmer ins Mikrofon des Campusradios. Auch der Wunsch nach mehr autofreien Zonen wird geäußert, nicht zuletzt der Kinder wegen.
Lebensqualität kommt mit dem Fahrrad - wer damit einverstanden ist, ist bei der Critical Mass gut aufgehoben. Immer am letzten Freitag im Monat um 16:30 Uhr vor dem Schloss.