Es ist Donnerstag, der 06. April 2023. Mein Wecker klingelt um 07:07 Uhr. Ich stelle ihn immer auf krumme Zeiten, niemals auf Punkt. Das muss einfach sein.
Aber um Punkt 08:00 Uhr bin ich auf dem Schlossplatz verabredet. Dort startet die Schokofart. Runde 13 ist es, glaube ich. Ich habe nicht mitgezählt, ich bin im Jahr 2018 schon mal mitgefahren, da war es Nummer 4. Kommt das hin? *rechnet* Hm, in einem Jahr muss es nur eine statt zweier Fahrten gegeben haben. Gut möglich. Da war ja eine Pandemie und sowas.
Die Sonne scheint und es ist kalt. Auf dem Bakfiets und der Eurobox vor der Haustür hat sich sogar etwas Eis gebildet. Ich bin unschlüssig, ob ich mich wärmer anziehen soll. Normalerweise würde ich es nicht tun, zum einen soll es über den Tag wärmer werden und auch in den kommenden Tagen nicht mehr frieren, zum anderen gilt die Regel: bei Abfahrt immer etwas zu kalt angezogen sein. Die Wärme kommt beim Fahren.
Aber heute fahren wir in der Gruppe. Das bedeutet unter anderem: das Tempo bestimmt die Gruppe, die Pausen bestimmt die Gruppe. Eine Pause in leicht angeschwitzter Funktionskleidung kann schnell ganz schön frisch werden.
Aber ich entscheide mich gegen ein zusätzliches Kleidungsstück, und das soll sich schon kurz darauf als berechtigt erweisen: Die Sonnenstrahlen wärmen ordentlich, sogar beim Sammeln auf dem Schlossplatz.
Nachdem alle beisammen sind gibt es ein Foto, ein paar Worte von Lastenradinfluencer, Fahrrad-Podcaster und meinem persönlichen Coach Joko von Josbach zu den Handzeichen beim Fahren in der Gruppe, und dann geht es auch schon los.
In Deutschland fahren wir gemäß Straßenverkehrsordnung als geschlossener Verband auf der Fahrbahn. Die Innenstadt haben wir aber schnell hinter uns gelassen, und entlag der Landstraßen verkriechen wir uns ob der gefahrenen Geschwindigkeiten dann doch lieber auf die straßenbegleitenden Radwege. Kaum zu glauben, aber wahr: einige von denen sind deutlich breiter, als später in den Niederlanden.
Am Anfang ist das Tempo sehr zügig. Oder ich bin noch nicht richtig warm, jedenfalls macht mir bei der ersten Pause mein rechter Oberschenkel ein bisschen zu schaffen. Ich entfalte meinen mitgebrachten Klappstuhl und strecke die Beine aus. Das hilft schon mal. Dazu ein bisschen Obst und einen kleinen Drohnenflug.
Eigentlich würde ich die Gruppe ja sehr gerne während der Fahrt filmen, aber das auf- und abrüsten der Drohne geht mir nicht schnell genug, und ich habe keine Lust, für einen Shot von einigen Sekunden die Gruppe zwei Mal anzuhalten. Ich sollte mir das merken und die Drohne beim nächsten Mal einfach zuhause lassen.
Oder aber wir müssten mit einem Hase Pino oder ähnlichem Tandem fahren, dann könnte eine*r fahren und eine*r fliegen ... Na, das wäre doch eine Idee.
Das Wetter meint es noch gut mit uns, es ist schwer vorstellbar, dass noch am selben Tag Regen und grauer Himmel erwartet wird.
Wir rollen weiter durch Ahaus, am niederländischen Event-Supermarkt "Ter Huurne" vorbei nach Haaksbergen, wo wir Mittagspause machen. Ich erwerbe eine große Patat Speciaal, nur um festzustellen, dass die Portion für 4,25 Euro wirklich zu groß für mich ist. Zum Glück langen andere fleißig zu.
Überhaupt für mich interessant, für andere, wie ich erfahre, nicht neu: mein Wille, große Portionen zu essen, ist auf der ganzen Fahrt trotz der immensen körperlichen Betätigung nahezu überhaupt nicht vorhanden. Das sollte sich auch bei der Ankunft in Amsterdam zeigen, wo von unterwegs noch Pizza geordert wurde, und als wir dann da waren, konnte ich gerade mal drei Stücke essen.
In Haaksbergen werden wilde Spekulationen über das bevorstehende Wetter angestellt. Einige Mitfahrende haben Komoot Premium abonniert und sind so minutiös über das Wetter entlang der Strecke informiert, andere schauen auf den Regenradar. Man ist sich uneins, wie stark es regnen wird, aber wir fahren definitiv in den Regen hinein, also legen viele entsprechend Kleidung an. Ich schiebe das noch ein bisschen hinaus. Schließlich lehrt die Erfahrung: in Regenhose bin ich anschließend genau so nass, nur halt vom Schweiß, nicht vom Regen.
Es bleibt dann bei Nieselregen, insofern bereue ich meine Entscheidung nicht. Die Radfahrhose fühlt sich kaum nass an, meine Van Moof Jacke hat einen prima Job als Regenjacke gemacht. Ich hänge alles zum trocknen, dusche und gehe zum Abendessen. Ich freue mich sehr, dass ich das Abendessen im Hostel dazu gebucht habe. Es erschien recht teuer, aber jetzt nochmal in den nächsten Ort zu radeln, um dort Pommes zu essen, darauf hätte ich gerade wirklich wenig Lust.
Und am nächsten Morgen haben wir auch Frühstück gebucht. Es ist üppig und durchaus lecker, weshalb sich unsere Abfahrt ein wenig verzögert. Und der Nieselregen vom Vortag ist geblieben, das mindert die Motivation natürlich ein wenig.
Aber wir machen uns dennoch pflichtbewusst auf den Weg, die Schokolade will ja abgeholt sein. Und der Regen reicht auch heute zum Glück wieder nicht, um uns ernsthaft zu durchnässen.
Unser erster Stopp ist in Apeldoorn auf dem Marktplatz, ein Ort, den ich auf dieser Reise ungewollt noch einmal sehen sollte. Wir halten uns mit Eurodance Nummern warm und naschen aus dem Eimer Nüsse und Trockenfrüchte, den uns der Unverpackt Laden aus Münster gesponsert hat.
Weiter geht's nach Amersfoort, wo wir andere Schokofahrende treffen, die auf uns gewartet haben, obwohl wir schon ordentlich hinter unserem Zeitplan liegen (siehe: üppiges Frühstück). Unter anderem ist Micha dabei, der mir meine Lenkrollen-Umpuschelung genäht hat, für die ich ihm nach wie vor ein Bier schuldig bin. Ich kann ihm direkt vor Ort eine Dose Hansa Pils oder ein Uiltje Indian Pale Ale anbieten, aber es ist nicht der richtige Moment, wir haben ja noch etwas zu fahren.
Auf dem Rest der Fahrt wird relativ oft spontan die Route geändert, weshalb mein Wahoo irgendwann nicht mehr aufhört, verzweifelt zu piepen: "Fahren Sie bitte zurück! In 300m bitte wenden!" Ich erlöse das arme Gerät, indem ich die Routenführung beende und einfach hinterher fahre.
Joko ist derweil auf dem ursprünglichen Track geblieben, was ihm zwar die Möglichkeit zu ein paar wirklich schönen Videoaufnahmen von der Gruppe über einen Kanal hinweg bietet, aber auch dazu führt, dass er dann alleine bis zur Villa fährt. Wie zu erwarten war, erhöht er das Tempo und ist deutlich vor der Gruppe da (die sich mit einem Schnitt irgendwo um die 18 Stundenkilometer bewegt, was mir durchaus reicht).
Die Villa Buitenlust ist vielleicht 10 Fahrtminuten vom Amsterdamer Hauptbahnhof entfernt und liegt trotzdem wie auf dem Land. Direkt nebenan, durch eine kleine Gracht getrennt, ist ein Bauerncafé, dahinter wiesen und Schafe. Man glaubt kaum, dass man mitten in Amsterdam ist.
Wir kochen uns Nudeln mit einer köstlichen Linsenbolognese, und ich lerne, dass der Körper nach großer Anstrengung keine Lust hat, große Mengen Essen aufzunehmen. Nach einer Portion ist für mich Schluss, obwohl da bestimmt noch Kalorien aufzufüllen gewesen wären - und es, wie eingangs erwähnt, köstlich ist.
Samstag ist der Tag, an dem die Schokolade abgeholt wird. Vorher muss ich aber kurz beim Frühstück noch lernen, dass der Gouda der Gruppe aus Bremen gehört. Na dann halt nicht.
Die Chokolate Makers waren wohl mal woanders, dorthin habe ich es aber nie geschafft, bei meiner ersten Schokofahrt im Jahre 2018 bin ich am Abholtag mit meinem Sohn Levi weiter ans Meer gefahren und von dort dann mit dem Zug nach Hause - auch, weil ich damals gar nicht wusste, dass ich mein Lastenrad im niederländischen Zug gar nicht mitnehmen darf.
Jetzt sind sie ganz in der Nähe der Villa Buitenlust im Westerpoort, nicht mal drei Kilometer zu fahren. Nach 121 und 128 Kilometern an den beiden Tagen zuvor bin ich freilich auch ganz froh, dass es heute nicht so weit sein muss.
Auf dem Hof angekommen, tummeln sich dort schon allerhand Schokofahrer aus den entlegensten Regionen. Ich habe meinen Klappstuhl mitgebracht, setze mich an die Hafenkante in die Sonne und freue mich, wenn mein PapriCargo bewundert wird.
Zwischendurch hole ich mir den ein oder anderen Keks und ein paar Becher Tee von der Theke, bis irgendwann Rainer und Sophia ankommen, die ihre Schokofahrt in nur drei Tagen - 170, 140 und 170 Kilometer - ausfahren.
Schokolade wird verladen, Aufteilungen werden besprochen, Pommesbuden werden ausgewählt. Auf geht's in die Innenstadt. Rainer und Sophia sind deutlich fixer als ich unterwegs, was nicht nur daran liegen kann, dass mein Tretlager seit dem Vorabend knackende Geräusche von sich gibt.
Bei Oma gibt es wohl ziemlich gute Fritten und das scheint bekannt, ich wusste das gar nicht, kann es aber bestätigen. Dazu noch zwei Groente Kroket und dann machen sich die beiden fleißigen auch schon wieder auf die Rückfahrt, und ich auch, nur habe ich es nicht so weit. Den Rest des Nachmittages existiere ich auf der Terrasse der Villa Buitenlust und auf dem Sofa vor mich hin. Am Abend bringe ich noch Pfand weg und lade die Bedienungsanleitung der Großküchenspülmaschine herunter, um erfolgreich Fehler E6 zu beseitigen.
Am Sonntag geht es zurück nach Deventer. Wir fahren pünktlich vom Hof und bei noch trübem Wetter aus Amsterdam raus. Mein Tretlager ist von gelegentlichem Knacken zu fortdauerndem Knirschen übergegangen, so dass ich bereits (mit mir selbst) Wetten abschließe, ob ich es wohl überhaupt bis nach Deventer, beziehungsweise am Folgetag nach Münster schaffen werde. Jemand ist anschließend der Meinung, damit hätte ich die kommenden Ereignisse heraufbeschworen, und wer weiß, vielleicht.
Zunächst aber bessert sich das Wetter und nach und nach werden lange Kleidungsstücke aussortiert, einige in der Gruppe sind gar in kurz/kurz unterwegs.
Wir fahren durch schöne Landschaften, die wir uns leider auch mit Motorrädern und Autos teilen müssen. An mehreren Maschinen beobachte ich 360 Grad Kameras an langen Selfie Sticks für Third-Person-Aufnahmen, dabei knattern sie so laut durch die Welt, dass die Wände wackeln. Und die Autofahrys? Packen wir die unangenehme Wahrheit auf den Tisch: es mag in den Niederlanden zwar viel sehr gute Fahrradinfrastruktur geben, aber wehe dem, der dann doch mal auf die Fahrbahn muss.
Überholabstand? Gibt es nicht. Langsamer werden im Gegenverkehr, weil zwischen dir und der entgegenkommenden Gruppe Lastenräder gerade mal fünf Zentimeter Platz übrig sind? Niemals!
Irgendwo hinter Putten holt sich dann ein Jaguar-Fahrer die Idiotenkrone, nachdem er handgestoppte zwanzig Sekunden ausdauernd seine Hupe betätigt. Wir befahren gerade ein kleines Teilstück ohne Radweg, als er uns keine hundert Meter später überholen kann, ist der Radweg schon erreicht. Offenbar ein Geduldsfaden ebenso lang wie sein Penis.
Wir machen eine Pause im Wald, um uns von diesem Schrecken zu erholen. Ein Blick auf die Route verrät: noch etwa 16 Kilometer bis Deventer, und im Grunde nur noch bergab! Wir frohlocken und beschließen, uns in Deventer sogar die Fähre über die Ijssel zu gönnen, die direkt vor unserem Hotel anlegt.
Ich komme allerdings nicht so weit. Wir durchfahren gerade den Ort Vaassen, in Zweierreihe, als bei leichter Bergabfahrt Gegenverkehr kommt. Ich sortiere mich nach rechts ein, und es ist wohl einer der dümmsten Zufälle der letzten Jahre. Genau in dem Moment, in dem ich nach rechts eingelenkt habe, erreiche ich einen Gullideckel, der ziemlich weit aus dem Pflaster hervor steht. Mein Vorderrad verkantet sich, wird überdreht, beide linken Lenkzüge reißen, ich verliere die Kontrolle und kippe um.
Das muss man erstmal schaffen.
Nikolai hat einen Ersatzzug dabei, aber mit dem falschen Nupsi am Ende, er rutscht durch. Wir versuchen, einen der beiden rechten Lenkzüge nach links rüber zu bauen, aber er ist zu kurz. Nichts zu machen. Für mich endet die Fahrt. Lea gelingt es, den zweiten Lenkzug falsch herum einzubauen, so dass wenigstens mein Vorderrad gerade stehen bleibt und ich das Rad zur Bushaltestelle schieben kann.
Dort kommt schon in vier Minuten ein Bus. Hastig nehme ich alles, was an Anbauten am Fahrrad verblieben ist - Lautsprecher, Handyhalterung, Fahrradcomputer, GoPro - ab und stopfe es in meinen Rucksack. Dann schließe ich das Rad an und ab - denn wir sind in den Niederlanden und NATÜRLICH gibt es einen überdachten Fahrradständer mit der Möglichkeit, die Räder sicher anzuschließen an dieser Bushaltestelle.
Ein hochmoderner Elektrobus bringt mich zum Bahnhof Apeldoorn, auf der Fahrt komme ich nochmal am Marktplatz vorbei. Am Bahnhof habe ich direkt Anschluss an einen Zug nach Deventer. Ich komme gleichzeitig mit der Gruppe am Hotel an - und fasse den Entschluss, noch am Abend nach Münster weiter zu fahren.
Ich übernehme mein Gepäck, das andere aus der Gruppe dankenswerterweise aufgenommen hatten, ziehe mich um und laufe zum Bahnhof. Unterwegs kläre ich schon mit Rainer den Lieferwagen für den Folgetag ab. Er hat noch eine Idee, wie das Rad vor Ort zu reparieren wäre, aber er weiß ja noch gar nichts von meinem Tretlager.
Und der Montag ist dann für mich eine lange Autofahrt. Aber ich bringe das PapriCargo sicher nach Hause und bleibe, was Schokofahrten angeht, unvollendet. Trotzdem war es wunderschön. Auf ein nächstes Mal.